berlin _ 862 _ fundstück

In meinen Träumen läutet es Sturm

Wie kommt es nur, dass wir noch lachen,

Dass uns noch freuen Brot und Wein,

Dass wir die Nächte nicht durchwachen,

Verfolgt von tausend Hilfeschrein.

Habt Ihr die Zeitung nicht gelesen,

Saht Ihr des Grauens Abbild nicht?

Wer kann, als wäre nichts gewesen,

In Frieden nachgehn seiner Pflicht?

Klopft nicht der Schrecken an das Fenster,

Rast nicht der Wahnsinn durch die Welt,

Siehst Du nicht stündlich die Gespenster

Vom blutigroten Trümmerfeld ?

Des Tags, im wohldurchheizten Raume:

Ein frierend Kind aus Hungerland,

Des Nachts, im atemlosen Traume:

Ein Antlitz, das Du einst gekannt.

Wie kommt es nur, dass Du am Morgen

Dies alles abtust wie ein Kleid

Und wieder trägst die kleinen Sorgen,

Die kleinen Freuden, tagbereit.

Die Klugen lächeln leicht ironisch:

Ça c’est la vie. Des Lebens Sinn.

Denn ihre Sorge heißt, lakonisch:

Wo gehen wir heute Abend hin?

Und nur der Toren Herz wird weise:

Sieh, auch der große Mensch ist klein.

Ihr lauten Lärmer, leise, leise,

Und lasst uns sehr bescheiden sein.

Mascha Kaléko

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