Es gibt Tage, denen haftet einfach eine mathematische Atmosphäre an, mache man, was man wolle (oder nicht _ wolle). Während Uli sich durch seine Übungsaufgaben quält bin ich immer noch dabei, die „Trag“weite zu ermessen, die sich hinter gewissen Zahlen verbirgt. Das mag daran liegen, dass ich in den vergangenen vier Tagen die rund 150 Kisten mit den Habseligkeiten, die wir in 30 Jahren angesammelt haben, mindestens drei mal hin und her getragen und gestapelt habe, um diejenigen auszusortieren, von denen wir denken, dass sie uns hier in Berlin nützlich sein können.
30 Jahre, 150 Kisten, also im Durchschnitt 5 Kisten pro Jahr, oder anders gesagt: 100 kg Bücher pro Jahr, denn um DIE geht es hauptsächlich. Will sagen 3000 kg gedruckte Worte und Bilder, die auf 4 Paletten Platz gefunden haben, was wiederum bedeutet, dass alles, was uns am Herzen liegt, in weniger als 10 Kubikmeter passt.
Schon komisch, wenn man einen so langen Zeitraum seines Lebens in so nüchternen Zahlen sieht.
Wären Arturo und Marta nicht gewesen, mit ihrer Geduld, ihrem Wissen und der ganzen Logstik, die sie zur Verfügung gestellt haben, wäre ich vielleicht immer noch dabei, die Kisten von einem Stapel auf den anderen zu schichten und erschöpft zu überlegen, wie ich den ganzen Berg nach Berlin bringen soll; vollkommen überwältigt von Grössenordnungen, die mir so fremd sind, wie die Matheaufgaben auf Ulis Übungszettel; die ich erst in Bezug setzen muss zu anderen Dingen, die mich umgeben, um sie zu begreifen und zu bewältigen.
Selbst mein Webstuhl ist verpackt und wartet auf seinem massgesägten Bett aus dicken Eichenbohlen und Tatamis darauf, dass ein günstiger Kostenvoranschlag für den Transport von Reinosa nach Berlin eintrudelt und sich alles in Bewegung setzt. Ich habe vier Nächte lang kaum geschlafen, habe in Gedanken weiter Kisten bewegt, die längst gestapelt waren, habe Plastikfolien abgerollt, die längst gespannt waren, Paletten von Gabelstaplern rutschen und Lkws umkippen sehen, habe mir vorgestellt, wie die Bücherklötze den Gehweg vor unserer neuen Wohnung versperren und wir unter strömendem Regen und missbilligenden und mitfühlenden Blicken der Vorbeigehenden in aller Eile versuchen, diesen Berg in den zweiten Stock zu tragen. Einmal hab ich sogar einen Brand gesehen und wusste einen Moment lang nicht, ob ich nun erleichtert sein sollte, angesichts der Last, die sich da gerade in Luft auflöste, oder verzweifelt, ob des Verlusts all dessen, was für uns über den reinen Inhalt hinaus auch ein wenig wie Zuhause ist. Dabei bin ich EIGENTLICH eine Optimistin.
Letztendlich ist es nichts anderes als ein weiterer Schritt auf unserer Wanderung. Darauf hoffend, dass alles zu einem guten Ende kommen wird, bin ich gleichzeitig froh, dass wir es überhaupt so weit geschafft haben. Und sehr, sehr neugierig und gespannt auf das, was die Zukunft uns bringen mag.