berlin _ 817 _ fundstück

Zweites Jahresende unter dem Zeichen der Pandemie. Inzwischen wissen auch die Optimistischsten unter uns, oder die Naivsten: so schnell, wie wir noch im Frühjahr 2020 gedacht hatten, werden wir diesen Gesellen nicht wieder los. Mehr noch, wir werden uns wohl an ihn gewöhnen müssen, wie an einen nicht eingeladenen Dauergast, der sich bei uns wohlfühlt, auch wenn wir alles tun, um ihm das Überleben unmöglich zu machen.

Im Frühjahr 2020 haben viele von uns, die nicht gerade in einer akuten Extremsituation steckten und die negativste Auswirkung, den eigenen Tod oder den von geliebten Menschen, vor Augen hatten, durchaus eine Chance in dieser allgemeinen Ausnahmesituation gesehen. Eine Chance anzuhalten und aus dem Stillstand heraus darüber nachzudenken, ob Leben, ob Alltag, ob Gesellschaft auch anders gehen kann. Ob diese uns allen auf einmal verloren gegangene Normalität denn wirklich etwas ist, dem man hinterhertrauern sollte, oder ob die kollektive kreative Kraft sich nicht vielmehr darauf konzentrieren sollte, neue Modelle, Wege, Systeme zu denken, die uns in eine neue und bitte! andere Normalität bringen.

Das Virus hat nicht nur seiner Natur entsprechend weltweit in Millionen von Körpern gewütet und Abwehrsysteme auf ihre Tüchtigkeit hin überprüft, es hat auch unser gesellschaftliches Gefüge auf den Prüfstand gebracht, als Katalysator fungiert und seine Schwachstellen mit einer so großen Deutlichkeit aufgezeigt, dass ein Wegsehen immer schwerer fällt: von der Abhängigkeit von globalen Produktionsketten und der Allmacht wirtschaftlicher Interessen, über die Folgen des Rationalisierungsbestrebens in all den Bereichen, die mit dem Faktor Mensch zu tun haben in Gesundheit, Bildung, Familie und Kultur, bis hin zum mangelnden Vertrauen in die Politik die Hinterfragung unseres Verständnisses von Solidarität, das Rütteln an Freundschaften und das Fehlen jeglicher Planungssicherheit….

Fakt ist, dass diese zwei Jahre des mehr oder weniger bewußt wahrgenommenen Dauerstresses, dem wir alle ausgesetzt sind, anscheinend eher dazu geführt haben, dass die destruktive Komponente, die solch einer Situation innewohnt Überhand nimmt. Wir tun uns schwer damit, diese Energie beiseite zu schieben und konstruktive Ansätze zuzulassen.

Für mich war und ist diese Pandemieerfahrung nach wie vor eine Chance, die wir immer mehr vertun, indem wir Diskursen folgen, die spalten, statt zu vereinen, die Unverständnis nähren, statt Empathie. Dieser Bedrohung von außen, der wir mit Geschlossenheit begegnen sollten, erlauben wir es, dass sie uns zusehends von Innen heraus zergliedert. Das liegt nicht in der Natur des Virus, denn das macht keinen Unterschied zwischen dem einen oder dem anderen Zellgefüge „Mensch“. Das liegt dann wohl in unserer menschlichen Natur?!

Ich will die Auswirkungen der Pandemie nicht kleinreden, jeder Mensch der geht ist ein Verlust für die Hinterbliebenen, eine leere Stelle im Gefüge. Aber ja, es geht auch ein wenig in die Richtung: jede Krise birgt eine Erfahrung, aus der wir lernen können, Dinge in der Zukunft besser zu machen, solider, ausgewogener, gerechter, solidarischer, widerstandsfähiger, für jede und jeden einzelnen von uns und damit für uns alle.

Ich wünsche mir einfach, dass die Energie die in den Millionen von Umarmungen steckt, auf die wir in diesen Zeiten der Pandemie verzichten mussten, nicht einfach verpufft, dass wir sie einfangen und mit ihr und aus ihr heraus doch noch den Mut finden, darüber nachzudenken, ob Leben, ob Alltag, ob Gesellschaft auch anders gehen kann.

Ich wünsche mir, wieder quer denken zu dürfen, ohne als Querdenkerin abgestempelt zu werden. Quer zu denken ist ein hohes Gut. Wikipedia sagt: „Laterales Denken, auch Querdenken genannt, ist eine Denkmethode, die im Rahmen der Anwendung von Kreativitätstechniken zur Lösung von Problemen oder Ideenfindung eingesetzt werden kann.“ Das will ich zurückhaben!!!

Ich wünsche mir, wieder spontan, mit Leichtigkeit und Unbeschwertheit umarmen zu können. Nicht alle, nicht jeden, nicht immer. Auch da hat die Pandemie und unser verändertes Verhalten durchaus eine Chance gebracht, Dinge neu verhandeln zu können und bisher Selbstverständliches zu hinterfragen. Aber da wo es mir wichtig ist, möchte ich es wieder tun können.

Ich wünsche mir, dass wir Stillstand als positives Momentum akzeptieren lernen, das uns die Möglichkeit eröffnet, Dynamiken zu verändern und damit Beziehungen und Systeme neu zu gestalten.

Ich wünsche mir, dass die Erfahrungen des letzten beiden Jahre, die, die wir positiv bewerten ebenso wie die, die wir negativ bewerten, in uns nachhallen und uns dazu anregen, nachhaltigere Modelle zu denken und zu leben.

Vor einem Jahr habe ich dieses Video schon einmal geteilt. Ich tue es wieder, denn Konstantin Wecker ist nach wie vor Teil meines kulturellen Nährbodens und seine Worte von vor einem Jahr enthalten, jetzt vielleicht eher als Mahnung und Auftrag für die Zukunft, viel von dem, was mich jeden Morgen aufs Neue dazu bringt, die Ärmel hochzukrempeln und so gut es geht meinen Teil dazu beizutragen, dass diese Welt eine menschenwürdigere Welt wird.

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1 Antwort zu berlin _ 817 _ fundstück

  1. Ludger KMH sagt:

    Liebe Andrea, Danke exzellent gedacht und geschrieben. Wieder eine Bereicherung!

    L

    Ludger Lemper KulturMarktHalle e.V. Tel.: 01758606409 http://www.KMHBerlin.de

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