„orth, unorth, ewigkeit, zeit, nacht, tag.“
„Beschränke alles auf das Wesentliche, aber entferne nicht die Poesie. Halte die Dinge sauber und unbelastet, aber lasse sie nicht steril werden.“
„Wabi-Sabi nährt alles, was authentisch ist, da es drei einfache Wahrheiten anerkennt: nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen und nichts ist perfekt.“ (Richard R. Powell)
Wenn es zum Stillstand am Webstuhl kommt, bedeutet das meist nicht, dass NICHTS passiert, sondern „nur“, dass die Energie gerade in einer anderen Welt eingebunden ist, manchmal einem eigenen Bedürfnis folgend, manchmal aus ganzheitlich empfundener Wahrnehmung, manchmal aus fremdbestimmter Notwendigkeit.
Seit zwei Wochen ungefähr, oder sogar drei, sind meine Energien eingebunden im nah_bar_festival, das die #KulturMarktHalle organisiert und realisiert. Zu Beginn der Planung des Festivals habe ich eine gewisse Verantwortung übernommen, und daher für mich entschieden, meinen Platz vor dem Webstuhl und den Platz in meinem Herzen und meiner Seele, den die Weberei einnimmt, für eine kleine Weile zu verlassen und mich mit eben soviel Hingabe dem Festival zu widmen.
Nun sind sechs von den geplanten zehn Tagen vorbei. Am siebten Tag kommt es mir zu, einen Teil des Programms, das an jedem Tag einen besonderen Spaziergang durch den Kiez und eine Konzert oder eine Tanzperformance an einem besonderen Ort miteinander verbindet, zu gestalten.
Seitdem ich diesen Kiez begehe, und das sind inzwischen zwei Jahre, gibt es Orte, die mich besonders anziehen, mich tief berühren und immer wieder einladen, an ihnen zu verweilen.
Ich habe sie UNORTE genannt und meine Tour trägt dementsprechend den Titel: „Un_Orte. Vom Menschen vergessen – von der Natur erkannt.“ Orte zwischen zwei Welten.
Carlotta, die das Festival mit ihrer Kamera begleitet und jeden Tag das Geschehen in einem kleinen Video zusammenfasst, hat es auch an diesem 1.Oktober getan. Es war der erste Herbstnebeltag, der den Spaziergang in eine ganz besondere Atmosphäre gehüllt hat.
Ich habe eine wunderbaren Text zu den UNORTEN gefunden, den ich gerne in Auszügen mit euch teilen möchte. Er stammt von Fabian Müller und veröffentlicht wurde er in den Starnberger Heften.
Fabian Müller: Unorte
Abgrenzung und Definition
Fällt einem auf die Schnelle keine griffige Definition des Wortes »Unort« ein, so liegt dies möglicherweise daran, dass es bereits zum Erscheinen des Deutschen Wörterbuches von Jacob und Wilhelm Grimm (DWB) im Jahr 1838 als unüblich galt und zwischenzeitlich als ausgestorben betrachtet werden darf, bis es (…) als Übersetzung des englischen »uncommon place« (wörtlich: unüblicher Platz) verwandt wurde. Bei genauerer Auseinandersetzung ist der Unort jedoch weitaus mehr als nur ein unüblicher Platz.
Eine elegante Methode, sich einer Begriffsdefinition anzunähern, ist die Definition der Negation, oder anders ausgedrückt: Was ist ein Unort nicht? Die auffälligste Wortverwandtschaft besteht mit der Utopie (griechisch οὐτοπία: Nicht-Ort), doch anders als die Utopie sind Unorte Bestandteil unserer (…) Lebenswirklichkeit. Auch der Nicht-Ort (französisch non-lieu) des Anthropologen Marc Augé, ein einseitig genutzter Platz ohne Geschichte oder Identität wie etwa ein Einkaufszentrum oder eine Autobahn, übernimmt nur einen Teil der reichen Sprachgeschichte, die das Wort »Unort« im Deutschen begleitet. Verlassene Orte hingegen besitzen anders als der Nicht-Ort tatsächlich eine Geschichte; und sollten sie auch heute verlassen sein, so umgibt sie noch ein Nimbus, der sie von der vordergründigen Seelenlosigkeit des Unortes unterscheidet.
Unorte hingegen sind vom Menschen geschaffene Natur, und man verzeihe an dieser Stelle den Widerspruch zur Definition der Natur. Genauer formuliert sind Unorte Orte, die eine Abkehr (…) vom Hintergrundrauschen des Seins darstellen, also Struktur innehaben, aber nicht natürlich gewachsen sind, sondern ihre Daseinsberechtigung in schlichter Kausalität finden. Während ein Theater, ein Marktplatz, aber auch privater Raum wie eine Wohnung zu einem hohen Grad Selbstzweck sind, sind die Unterführung, die Autobahnraststätte, die Bahngeleise in erster Linie Kollateralen der Urbanisierung. Daraus ergibt sich eine Skala aus Ort und Unort, deren Maß Selbst- oder Mitzweck ist; eine binäre Einordnung ist folglich unmöglich.
Mit diesem Begriffskorpus gerüstet, lohnt sich eine etymologische Herangehensweise, um die Dimensionen des Begriffes genauer zu erfahren.
Etymologische Herangehensweise und Deutung
Einer Sekundärquelle zufolge findet sich eine Nennung des Unortes in frühen Auflagen des Grammatisch-kritischen Wörterbuches Adelungs unter dem Stichwort »Ungemach«, wo das Ungemach in seiner Bedeutung einer Kerkerzelle, die weder sitzen noch stehen erlaubt, als Unort bezeichnet wird. Das eingangs erwähnte Grimm’sche Wörterbuch führt unter dem Stichwort »Unort« auf: »UNORT, m.: orth, unorth, ewigkeit, zeit, nacht, tag Silesius wandersm. 30 ndr.; desertum Stieler 1396. unüblich. — «. Was auf den ersten Blick kryptisch erscheint, erhellt sich, wenn man die Definition eines Ortes im DWB heranzieht, die weitaus umfassender ist als die heutige Alltagsverwendung, genauer »ein von menschen besuchter und benutzter platz, ein platz des öffentlichen verkehrs«, suggeriert. So ist der Ort auch »himmelsgegend« (…) (Der Unort vielleicht „gottverlassen“?)
Weiterhin ist ein Ort nicht nur auf die vom Menschen scheinbar statisch erlebten Raumdimensionen beschränkt, sondern laut DWB in älterer Konnotation die Beschreibung eines Bereichs in der Raumzeit. Daraus lässt sich die Definition des verlassenen Ortes verfeinern: Der Nimbus, der Glanz des Gewesenen, herrscht nur dort, wo dieser Bereich auch die Vergangenheit vor dem Verfall mit einbezieht. Umgekehrt folgt daraus für die Unortsdefinition: Ein Unort ist unter Berücksichtigung der Zeit auch der unerfüllte Ort zwischen zwei Erfüllungen; die leere Oper zwischen zwei Aufführungen, das Schiff zwischen zwei Fahrten.
Doch noch eine weitere Bedeutung hält das DWB bereit, nämlich den Ort als Schneide, Spitze oder Schärfe. Über einen kleinen Brückenschlag würde damit aus dem Unort die Unschärfe: Orte liegen im Fokus, Unorte sind hingegen die Unschärfen im öffentlichen Raum.
Die Fotografie entwickelte beginnend in den 1960ern mit Stephen Shore und einen geschärften Blick für Unorte. Wo vorher von Zeit zu Zeit scheinbare Hässlichkeit und Identitätslosigkeit das urbane Bild durchbrachen, finden sich nun einzelne Inseln der Schönheit im schier endlosen Meer eines weitestgehend dienstbaren, aber auf den ersten Blick unästhetischen Organismus. Ist das nicht ein Verlust? Keineswegs! Erstens werden Unorte durch ihre Würdigung und das Erkennen ihrer ganz beifälligen Qualitäten gemäß dem japanischen Konzept des Wabi-sabi ihres Makels beraubt. Und zweitens gewinnt der schöne Ort erst dann wahrhaft an Bedeutung, wenn anerkannt wird, auf welch riesenhaften Schultern eines wohlgesinnten Molochs der Unorte er steht.
In diesem Licht erschließen sich auch die poetischen Worte des schlesischen Barockdichters Silesius im Wörterbuch der Gebrüder Grimm: »orth, unorth, ewigkeit, zeit, nacht, tag.«
Wabi-Sabi
Natürlich habe ich auch nachgesehen, wie Wabi-Sabi erklärt wird: Ursprünglich bedeutet Wabi sich elend, einsam und verloren zu fühlen. Dies wandelte sich zur Freude an der Herbheit des Einsam-Stillen. Aber erst in der Verbindung mit Sabi, alt sein, Patina zeigen, über Reife verfügen, entstand die eigentlich nicht übersetzbare Begriffseinheit, die den Maßstab der japanischen Kunstbewertung bildet. Nicht die offenkundige Schönheit ist das Höchste, sondern die verhüllte, nicht der unmittelbare Glanz der Sonne, sondern der gebrochene des Mondes. Es geht um die Hoheit, die sich in der Hülle des Unscheinbaren verbirgt, die herbe Schlichtheit, die dem Verstehenden doch alle Reize des Schönen offenbaren (Wilhelm Gundert)